Kurzgeschichte „Mental Health Awareness Month“
Die Schulglocken hallten durch die alten, modrigen Schulmauern, als Jessica die Tür des Klassenzimmers aufdrückte und in das Ende des Ganges starrte. Das Gebäude war schon einige Male kurz davor gewesen, abgerissen zu werden und doch hatte sich immer irgendjemand dagegen entschieden. „Ein Jammer...", dachte sie sich stillschweigend und trat in den Flur hinaus. Kaum, dass sie ihren Fuß hob, wurde sie schon zur Seite gedrückt und starrte ihrem Klassenkameraden ins Gesicht. Dieser blickte sie mit funkelnden, beinahe schon diabolischen Augen an und zischte ihr zu: „Wenn du nicht immer so viel Essen würdest, würdest du auch nicht immer so schwitzen!". Auch wenn Jessica die Kommentare der anderen Menschen schon gewohnt war, so trafen sie diese immer wieder wie kleine Pfeilspitzen direkt ins Herz und ließen sie nächtelang nicht schlafen.
Jessica zwang sich, wegzuschauen und lief den endlosen Gang entlang, um wenigstens noch einen Schluck trinken zu können, bevor die Pause vorüber war.
Der Aufenthaltsraum war genau so kühl wie der Rest des alten Backsteingebäudes und in ihm lag immer ein Geruch, den Jessica an das alte Wohnzimmer ihrer Oma erinnerte. Sie rückte sich einen der aus Buchenholz bestehenden Stühle zurecht und nahm darauf Platz. Kurz nachdem sie sich setzte, schreckte sie wieder hoch – jemand hatte einen Donut auf ihren Stuhl gelegt, der nun an ihrer Hose klebte. Jessica zwang sich, die Tränen zurückzuhalten und wischte sich die klebrigen, braunen Stückchen von der Hose. Sie stand auf, ging zum Wasserhahn und tränkte eines der billigen Einwegtücher, die die Schule aus einem bestimmten Grund zu lieben schien, in Wasser und beseitigte damit die letzten Überreste des Unfalls. Als Jessica sich wieder setzte, starrte sie auf die Uhr – die Pause war schon gleich wieder vorbei. „Schaut mal, Jessica hat schon wieder nichts gegessen, sie versucht mal wieder eine Diät zu machen!", grölte der Junge, der ihr oben schon ins Gesicht gezischt hatte. „Als würde das noch etwas bringen!", antwortete eine weibliche Stimme. Der Aufenthaltsraum verfiel in schallendes Gelächter. Jessica hievte sich aus ihrem Stuhl und drückte die Klinke der Tür hinunter, die sie weg von den bösen Zungen der anderen Schüler bringen sollte. Sie atmete beinahe nach Luft schnappend auf, als der alte, modrige Geruch ihre Nase endlich verließ und abgelöst wurde von verschiedenen, billigen Parfums der anderen Jugendlichen, die mit ihr in diesen düsteren Hallen zu lernen versuchten.
Die letzten beiden Schulstunden des Tages hatten begonnen – Deutschunterricht. Wenn Jessica Buchstaben auf weiße Blätter kritzelte und Balladen die Lippen des Deutschlehrers verließen, konnte sie die Grausamkeit der anderen Schüler für eine Sekunde vergessen.
Aus den Augenwinkeln sah sie, wie ein kleines Stückchen Papier in den Reihen der Tische herumgereicht wurde, nur um schließlich auf ihrem Platz zu landen. Auch wenn sie schon von einem schlechten Gefühl geplagt wurde, nahm sie den Zettel zwischen ihre Finger und faltete ihn auf. Das Lachen aus den hinteren Reihen bestätigte, was sie sah: ein Bild von Jabba aus Star Wars mit einem Pfeil über dem Kopf und ihrem Namen – „Jesica" – sie hatten sich nicht mal die Mühe gemacht, ihren Namen richtig zu schreiben.
Das letzte Glockenleuten des Tages riss Jessica aus ihren Gedanken. Sie war gerade damit beschäftigt gewesen, ein Gedicht über die Ungerechtigkeit zu verfassen, die ihr widerfahren war und benötigte kurz eine Sekunde, um sich wieder in der Realität zurecht zu finden. Sie schaute ihren Lehrer an, der seine Dokumente etwas zu flüchtig in seine braune Ledertasche stopfte. Er vergaß die Hälfte seiner Utensilien und schien förmlich aus dem Klassenzimmer zu rennen. Jessica schmunzelte, und blickte zurück auf die Worte, die das leere Blatt Papier vor ihr schmückten.
weise rosen in meiner brust
gelbe tulpen in den adern
rosa veilchen zieren meine venen
rote rosen wärmen sehnen
graue wolken schmücken sterne
wasser trifft auf zarte blüten
Weiter war sie nicht gekommen, da die schweren Glocken der kalten Hallen ihre Gedanken unterbrochen hatten. Jessica seufzte und klappte ihr Notizbuch zu. „ Mit so viel Gewicht braucht man gleich doppelt so lange zum Einpacken, was?!", grunzte der Junge, der ihr schon den ganzen Tag das Leben schwer machte. Beschämt blickte sie abermals gen Boden und machte sich auf den Weg nach Hause.
„Jessica, wie war dein Tag?", flötete ihr ihre Mutter entgegen und nahm sie in den Arm. „Du bist ja ganz nassgeschwitzt, ist alles in Ordnung, meine Kleine?". Jessica zwang sich, ihre Mundwinkel zu einem Lächeln anzuheben und ein „Alles ist gut, Mama!", verließ ihre Lippen. Ihre Mutter drückte sie noch eine Sekunde an sich, bevor die Umarmung ein Ende nahm und sie ihre Tochter darauf hinwies, dass sie noch kurz zu einer Freundin fahren würde. Jessicas Mutter war frisch getrennt und musste sich nun alleine um das Haus und ihre Tochter kümmern. Jessica wollte sie nicht zusätzlich noch mit ihrem eigenen Päckchen belasten und so ging sie betrübt in ihr Zimmer.
Das Zimmer war relativ groß und sehr aufgeräumt. Ihr Bett stand in einer der Zimmerecken, gegenüber von ihrem alten Fernseher. Der alte Apparat fiel manchmal aus, da er seine besten Tage bereits hinter sich hatte. Doch Jessica hatte dafür mehr als nur Verständnis und war froh, überhaupt ein solches Gerät besitzen zu können. Am anderen Ende des Raumes war ein Panoramafenster, durch das sie in kalten Nächten dem Regen entgegenblickte und die schönsten Buchstabenreihungen verfasste. Doch heute war ihr nicht danach, sich vor das Fenster zu setzen und so ließ sie sich erschöpft und leer auf das große Bett fallen. Jessica blickte nach oben an die Decke, die im Gegensatz zu dem Rest ihres Zimmers nicht in einem warmen Burgunder, sondern einem leicht fliederfarbenen Beige-Ton gestrichen war. Bei all der Kälte um sie herum hatte sie versucht, wenigstens ihrem Zimmer ein wenig Farbe zu verpassen. Alle hatten ihr von dieser Farbkombination abgeraten, doch sie bestand darauf.
Langsam füllten Tränen ihre Augen. „Wieso verstehen sie nicht, dass ich das alles doch gar nicht möchte?", schluchzte sie und bedeckte ihr Gesicht mit ihren Händen. Die Tränen flossen ihre Wangen hinunter und der Regen hinter dem Panoramafenster tat es ihr gleich. Sie spürte einen Schmerz in ihrer Brust, der einem Feuer gleichkam und sich immer mehr in ihrem Körper ausbreitete. Das Lodern in ihren Venen wurde begleitet von einer immer stärker werdenden Unruhe, die jeden einzelnen Winkel ihres Körpers heimzusuchen schien und keinen Halt vor jedem einzelnen Ort in ihrem Körper machte. Sie kannte dieses Gefühl – „Nein, nicht schon wieder...", murmelte sie unter ihren Tränen und versuchte, sich auf andere Gefühle in ihrem Körper zu konzentrieren. Doch es gab kein anderes und so überkam sie der Sturm an Gefühlen und versetzte sie in eine Art Trance, in der sie bedingungslos und vollkommen die Kontrolle verlor. Kaum sie selbst, leicht panikartig schlich sie in die Küche und suchte alles zusammen, was halbwegs gut transportiert werden konnte. Sie trug die Lebensmittel in ihr Bett und aß und aß und aß immer mehr, bis die Verpackungen leer und ihr Magen so voll waren, dass sie meinte, sie müsse sich übergeben.
Jessica blickte auf die Uhr. Es müssen Stunden vergangen sein, seitdem sie angefangen hatte, zu Essen. Ihr Magen fühlte sich an, als würde er gleich platzen und der Schmerz hielt sie davon ab, nach noch mehr Essen Ausschau zu halten, denn ein Sättigungsgefühl hatte – wie immer – nicht eingesetzt.
Immer noch leicht benebelt, halb in Trance schlief sie ein.
Der nächste Morgen umarmte sie mit Ekel vor sich und ihrem eigenen Körper. „Wieso hast du es wieder zugelassen?! Wieso hast du schon wieder die Kontrolle über das Essverhalten verloren?!", schrie sie sich selbst an und Hass erfüllte ihre Adern. Jessica weinte abermals und strich sich die nassen, von Tränen verklebten Haare aus dem Gesicht. Wut überkam ihren Körper wie ein Sturm und riss den mickrigen Rest positiver Gefühle in ihrem Körper mit sich und ließ nichts außer Verzweiflung und einem überwältigenden Hass auf sich selbst zurück. „Du Versager!", schrie sie ihr Spiegelbild an und starrte in ihre riesigen, aufgerissenen Augen, in welchen der Schmerz der vergangenen Monate zu erkennen war. „Es reicht nun.", flüsterte sie und entspannte ihre Gesichtsmuskulatur. „Gestern war das letzte Mal, das mich jemand so behandelt.", fügte sie hinzu und kramte ihr Notizbuch aus ihrer Tasche. Sie legte es auf den Tisch, blätterte die Seite auf, die sie gestern gefüllt hatte und vervollständigte sie:
anmutige hälschen krumm geknickt
wären sie nur nicht eingenickt
So wie Jessica geht es vielen anderen Menschen auf der Welt, die täglich unter Diskriminierung auf Grund ihres Körpergewichts leiden. Vorurteile gewinnen die Oberhand und der eigentliche Mensch geht unter. Beispiele für Gründe einer deutlichen Gewichtszunahme können z.B. auch sein:
- Die Antibabypille
- Genetische Veranlagungen
- Schilddrüsenprobleme
- Medikamente wie Antidepressiva
- Aufhören mit dem Rauchen
Im Falle unseres fiktiven Beispiels leidet der Hauptcharakter unter einer psychischen Erkrankung namens „Binge-Eating". Die Symptome können wie folgt aussehen:
- Betroffene sind regelmäßig wie in „Trance" und verlieren die Kontrolle über ihr eigenes Essverhalten
- es kann erst bei physischen Reaktionen, wie Magenschmerzen oder Erbrechen, mit dem Essen aufgehört werden
- oftmals kündigt sich dieser Kontrollverlust als Gefühl von enormer, steigender Unruhe an, die ab einem gewissen Punkt kaum noch auszuhalten ist
- ein Sättigungsgefühl setzt in der Regel nicht ein
- hinterher werden die Betroffenen von Selbsthass und Ekel vor sich selbst geplagt
- obwohl sie dies nicht wollen, treten die Essanfälle immer wieder auf und bleiben unkontrollierbar
Wenn wir uns das nächste Mal dabei erwischen, wie die gängigen Vorurteile in unseren Köpfen auftauchen, sollten wir alle an diese Geschichte denken. An die Gefühle der betroffenen Person und daran, dass oftmals externe Faktoren wie ein Rauchstopp oder Antidepressiva Gründe für eine Gewichtszunahme sind. Und vielleicht sollten wir uns alle einmal die Frage stellen, wieso wir unsere Energie und Aufmerksamkeit überhaupt so sehr auf die Probleme und das Leben anderer Menschen lenken. Sind wir vielleicht doch auch in manchen Momenten mit uns selbst unglücklich?